Mike Hartwig

Mike und ich kennen uns, seit ich den Gutsgarten in Hellersdorf zum ersten Mal im Sommer 2017 betreten habe, er gehört zur Gutsgartengruppe. Bevor wir unsere Aufnahme beginnen, erzählt er mir, dass er dieses Jahr noch aus Berlin wegziehen wird, nach Chemnitz. Wir setzen uns etwas abseits an einen halbschattigen Platz. Er lebt seit dreieinhalb Jahren in Hellersdorf. Ich weiß aus privaten Gesprächen, dass er, wie er selbst sagt, »alter Kreuzberger« ist, dennoch auch an vielen anderen Orten gewohnt hat, gerne belebte Straßen und Kneipenbesuche mit Freunden mag. Warum er dann nach Hellersdorf gekommen sei, frage ich. Mike lacht. »Weil ich nix anderes gefunden habe…wollte eigentlich wieder zurück [nach Kreuzberg] und hab’ nichts anderes gefunden, auch nicht mal im Wedding oder so und dann – das war halt ’n bisschen eilig und dann hab’ ich gesagt, irgendwie ok – ich nehm die erstbeste Wohnung. Der Vorteil von der Wohnung ist, dass sie von allen Wohnungen hier am dichtesten am U-Bahnhof Hellersdorf ist. Also ich brauch drei Minuten bis zum U-Bahnhof und das war schon ein wichtiges Kriterium.«

Er lacht wieder, es klingt weder verbittert, noch abwertend. Was die schönen Seiten an Hellersdorf seien? »Ja, was ich mittlerweile natürlich zu schätzen gelernt habe, ist halt am Rand zu wohnen und die Vorteile die man hat, wenn man [dort] wohnt, mitnehmen zu können; sprich, aufs Fahrrad zu steigen und nach Strausberg zum See zu fahren.« Er macht eine Pause, denkt kurz nach, atmet aus. »Hat ’n bisschen gedauert, also ich bin Mitte Dezember hier eingezogen, das war […] sehr trist, es lag so’n bisschen dreckiger Schnee, kann ich mich erinnern und es war natürlich kaum was grün – also eigentlich nix grün, ich kannte niemanden hier und war (atmet aus) ja – und dachte schon so’n bissl, das ist jetzt das Ende.«

Ich muss erstaunt laut lachen und sage, dass das dramatisch klingen würde. Mike meint das allerdings ernster, als ich vielleicht angenommen habe. Er fährt fort. »Naja, ich hab’ den Sommer über vorher in der Uckermark gewohnt, was natürlich irgendwie ’n Traum war und dann hierher zu kommen, im Winter, das war schon krass. (Pause) Das hat sich eigentlich erst so’n bisschen verändert, als ich dann hier den Garten kennengelernt habe.« Das war vor ungefähr drei Jahren.
»Da war ich mit nem Freund, der mich besucht hatte, spazieren und ja – dann waren hier ganz viele Leute und dann sind wir einfach mal rauf gelaufen und dann erzählte mir Robert, dass sie jemanden suchen, der so bisschen Café macht. Und dann hab’ ich gesagt: Ok, kannste auf­hören mit suchen, mach ich! Ja, so bin ich dann […] hier im Garten gelandet und dann hatt’ ich auch endlich den sozialen Background, den man halt braucht, wenn man irgendwo ist. Also klar hab’ ich einen großen Freundeskreis in Berlin; aber das ist schon was anderes, als jetzt sozusagen im Alltag was zu haben, was um die Ecke ist, wo man sich einfach aufs Fahrrad setzt oder selbst her laufen kann. Das war natürlich gut und dann hatte ich auch schnell ein paar von den Gewerbetreibenden hier kennengelernt und hatte immer mehr das Gefühl, hier ist ein guter Platz (Pause). Ist ja auch ’n guter Platz, wenn man die Schnauze voll hat, immer nur Platte an­gucken zu müssen.«

Ich frage ihn nach seiner Wohnung. »Ja, hier gibt’s ja nur Platte. 36 Quadratmeter, kleine Küche, kleines Bad, ist ok. Also wohnungsmäßig will ich mich nicht beklagen, da ist ’n großer Balkon […]« Ich lache und sage, dass ich ihn mir immer in einer Kreuzberger Altbauwohnung vorgestellt hätte. Und dann nach Hellersdorf zu kommen im Winter und zu denken, das ist das Ende, zitiere ich ihn. Aber ob er es jetzt, wo er wegzieht, auch vermissen würde?

»Naja – das hier, wie es jetzt im Moment ist, werd ich natürlich schon vermissen. Das ist aber unabhängig davon, ob ich wegziehe oder nicht – das wird ja weg sein [Mike meint den Gutsgarten und das Gut mit seinen Gewerbetreibenden, vor allem Mike’s Garage] Das ist auch der Grund, weswegen ich auch ohne meine Familiengeschichte gesagt hätte, ich such mir was anderes; ich hätt so oder so gekündigt. Weil die ganze Entwicklung in Hellersdorf sehe ich nicht grade positiv.«

Ich bitte ihn, dies zu konkretisieren. »Naja – die ganze Art und Weise, wie dieser Bezirk verschandelt wird. Ich hab’ mich ja, weil ich viel bei der Station [nGbK, Station urbaner Kulturen] mitgemacht hab’ , dann auch viel mit Hellersdorf beschäftigt, hab’ viele Veranstaltungen [dort…] organisiert, wo es auch um Architektur­geschichte ging und (Pause) – es ist sehr eigenartig mit wie wenig Sensibilität gesagt wird, ok: hier kommen Häuser hin, hier kommen neue Häuser, wir brauchen Wohnungen, scheißegal, wie die aussehen […] Das war ja lange bekannt, dass das so passieren wird – dass man allerdings, speziell jetzt die GESOBAU – dass man so hässlich bauen kann – das hätt ich jetzt nicht erwartet. Ich dachte schon, dass man wenigstens ein bisschen auf das Bestehende eingeht, meinetwegen auch Kontrapunkte setzt, aber so was Hässliches hinzusetzen, was sozusagen gar nichts ist…«

Der Gutsgarten und die Station urbaner Kulturen, die ja so etwas wie Zweig­stellen aus Kreuzberg seien, wären für Mike wie zwei Anlaufpunkte in Hellersdorf ge­wesen. »Dadurch war es ganz schön. Also naja […] ich hab’ den Bezirk [besser kennen­gelernt] – wenn man sich näher damit auseinandersetzt und dann feststellt, wie Hellersdorf gebaut worden ist. Man hat versucht, in der Planung die vielen Fehler, die man in Marzahn gemacht hat, zu vermeiden. Dann kam natürlich noch dazu, was Glücksumstand für Hellersdorf war, dass kein Geld mehr da war in der DDR.« Ich hake bei den Fehlern nach, von denen Mike gesprochen hat.

»Ich glaube, das ist einfach in vielen Fällen Quatsch gewesen ist, diese Hochhäuser da zu bauen und das andere, dass […] meines Erachtens diese öffentlichen Räume schlecht funktioniert haben. Dass das in Hellersdorf dann letzten Endes auch so gekommen ist, hat aber andere Ursachen. Das hat damit zu tun, dass Hellersdorf fertig war. Das war 1990. Dann wurde die Helle Mitte irgendwann neu gebaut, nicht nach den Plänen, die eigentlich vorgesehen waren, sondern [nach] völlig blödsinnigen Plänen. Es ist meines Erachtens auch ein Riesenfehler gewesen, hier eine Hochschule hinzuknallen, die halt überhaupt keinen Bezug zum Bezirk hat, also meines Erachtens nur in Ansätzen. Was ich aber auch verstehen kann. Also ich meine, wenn ich studieren würde, würde ich auch sagen, leck mich doch am Arsch. Ich komme hier her, ich reiß hier meine Stunden ab, setz mich wieder in die U-Bahn und bin weg.«

Ich frage, ob der Gedanke eigentlich war, den Bezirk mit der Alice-Salomon-Hochschule zu beleben. »Dann hätte man aber die Hochschule am Ende von einem der beiden Boulevards bauen müssen, sodass die Leute durch einen Teil des Gebiets gehen müssen und dadurch zwangsläufig in Kontakt kommen. Aber wenn ich das natürlich direkt neben die U-Bahnstation baue – also ich meine, blöder kann man es nicht machen. Aber okay.«

Was mit dem Bezirk Hellersdorf, der ja erst kurz vor der Wende quasi aus dem Boden gestampft wurde, nach der Wende passiert sei? »Viele von den Sozialbauten sind abgerissen worden. Was sich natürlich jetzt rächt. Also, wenn man ein bisschen von Demografie Ahnung gehabt […] und [ein] bisschen überlegt hätte – es ist ja klar, dass wenn man einen Bezirk hat, der eine relativ homogene Bevölkerung hat, vom Alter her – dann ist es klar, irgendwann sind die Kinder alle groß. Irgendwann fällt das alles weg. So, dann weiß man aber, irgend­wann kommt die nächste Welle, […] die nächste Phase, wo wieder viele Kinder sein werden. Naja, und so […] Betonbauten, [die] kann man […] ja im Grunde entkernen, aber den Rest stehen lassen. So, und dann, nach zehn, fünfzehn Jahren sagt man halt okay, neue Rohre rein, neue Fenster rein und dann hat man wieder Schulen, dann hat man wieder Kitas. Dumm, einfach nur dumm gewesen. Das alles jetzt wieder neu bauen zu müssen.

Was man sozusagen als Draufsicht [hat], wenn man sich Hellersdorf anguckt, dann sieht man natürlich schon, dass sie, die Planer, sich sehr viel Gedanken gemacht haben. Und da wird jetzt ohne Rücksicht auf Verluste einfach alles zugebaut […]. Es sind ja viele kleine Lücken, die jetzt auch zugebaut werden und teilweise wirklich dicht vor die schon bestehenden Häuser. Und das war ja eine der schönen Sachen in Hellersdorf, dass du sozusagen egal wo du gewohnt hast, du hattest immer so ein bisschen Weite. Also du hattest halt immer die Möglichkeit, ein bisschen Himmel zu sehen. Aber […] klar, wenn man der Meinung ist, es zählen jetzt nur noch Wohnungen  – erinnert mich so’n bisschen an die DDR – Wohnungen, wir müssen Wohnungen bauen: Und genauso ist das jetzt in Berlin.

Ich komm ursprünglich aus Chemnitz, aber da bin ich schon ’84 weg. Ich war kurz in West-Berlin; ich war in der DDR im Knast, als politischer Häftling. Und nach vier Monaten bin ich dann rausgekommen, freigekauft worden und bin dann die erste Zeit in West-Berlin gewesen. […] Nagut – meine ganzen Stationen, wenn ich die jetzt alle aufzähle, haste ’ne Stunde Gespräch nur über meine vielen Stationen. Aber Hellersdorf war meine – ich könnt’s jetzt versuchen aufzuzählen – auf jeden Fall irgendwas zwischen der fünfzigsten und sechzigsten Station in meinem Leben. (lacht) Und es ist relativ lange – wenn ich jetzt fast vier Jahre hier gelebt habe – da gibt’s wenig Orte, wo ich so lange gelebt habe, wie in Hellersdorf. Man wird halt im Alter ’n bisschen träger (lacht).« Ich frage Mike, ob er eigentlich nie zurück in die Ex-DDR wollte.
»Ne, das war mir egal. […] Das hängt immer von den Leuten ab, da gibt’s ja immer solche und solche. Das ist egal, ob Osten oder Westen […]. Ich merk aber, dass es mich nicht kalt lässt, wenn Leute mir erzählen, wie toll es in der DDR gewesen ist. Ich kenn’ auch viele Leute, die lange im Knast gesessen haben, aus politischen Gründen. Ich kann da nicht viel Gutes dran finden.«

Ich frage ihn, wieso er damals ins Gefängnis gekommen sei.
»Das war damals hauptsächlich Umwelt- und Friedensbewegung. Wir haben mal Plakate geklebt in Karl-Marx-Stadt. Da hat mich irgendein Typ verpfiffen, der mit mir in die Schule gegangen ist, der ’ne Klasse höher war, der dann bei der Stasi gearbeitet hat. Und das zweite Mal…genau, da wollt’ ich nach Prag und hatte irgendwelche Papiere von unserer Gruppe dabei und da haben die mich durchsucht und die gefunden. Die wussten wahrscheinlich schon vorher, dass ich die dabei habe, weil die sehr gezielt gesucht haben. Und das dritte Mal war dann irgendwie so eine Art Mahnwache – da war dann auch Knast, beim dritten Mal. Das war alles in Karl-Marx-Stadt. Was ich bis dahin wusste war, dass in Karl-Marx-Stadt die zweite zen­trale Abschiebestelle ausm Knast raus aus der DDR war. Also es gab halt Ost-Berlin und es gab Karl-Marx-Stadt. Alle Leute, die dann irgendwann, weil sie Republik­flucht gemacht haben und erwischt worden sind und dann drei Jahre Knast gekriegt haben – die kamen alle, wenn sie endlich ausreisen durften, nach Karl-Marx-Stadt. Ich hatte dann insofern das Glück, dass ich direkt von der U-Haft in den Ausreiseknast gekommen bin.« Mike wurde von der Bundesregierung frei­gekauft. »Also bei mir war es so, dass sie mich schon irgendwie noch gefragt haben, ob ich jetzt endlich diesen Ausreiseantrag unterschreibe und mir dann gesagt haben, was passiert, wenn ich das nicht tue. Und das war halt keine Option, nicht zu unterschreiben. Arbeitsplatzbindung, zwei Mal am Tag bei den Bullen melden, nicht mehr nach Berlin dürfen. War mir dann doch ein bisschen viel.«

Mike war damals achtzehn Jahre alt. Wir kehren nochmal zur jetzigen Bebauung Berlins zurück, von der Mike vorher gesprochen hatte, die ihn an die DDR erinnert und uns überhaupt erst zu diesem Thema lenkte.
» […] Es war dieses Wohnungsbau­programm: Okay, wir bauen halt auf Teufel komm raus Wohnungen, scheißegal, wie das aussieht. Im Grunde hat dann wirklich diese Begrenzung der Mittel […] in Hellersdorf dazu geführt, dass es eigentlich ganz gut geworden ist. Wie gesagt, man hat bestimmte Fehler nicht gemacht. Diese Karrees, glaube ich, die man gebaut hat, sind ganz schön gewesen, die haben auch lange funktioniert und, ja (Pause) – es war halt schon bisschen so ,ne Großzügigkeit da und die schafft auch ein bisschen Lebensqualität, glaube ich. Die Leute sind ja gerne hierher gezogen. Hat natürlich damit zu tun, dass man damals nicht einen Pfennig dafür ausgegeben hat, die Altbaugebiete zu sanieren und entsprechend die Leute dann irgendwie die Schnauze voll hatten – klar, was irgendwann in den 20ern noch ging, weil da fast alle noch mit Kohleofen gelebt haben, da war das eher normal und war in den 80ern was, wo die Leute wussten, wir können auch anderswo [wohnen]. Du hast die Heizung aufgedreht und es war warm. Ich glaube, dass die Frauen in der DDR auch ’ne große Rolle gespielt haben, weil die natürlich gesagt haben, ich hab’ keinen Bock mehr drauf – ich muss arbeiten gehen, ich hab’ überhaupt keine Zeit, noch den Ofen zu heizen, mich um den ganzen Dreck zu kümmern in so ,ner Altbau­wohnung und vielleicht noch zu gucken, wo tropft’s grade, wo muss ich jetzt noch ’n Topp drunter stellen. Und so verständlich, dass im Prenzlauer Berg damals in den 80ern ein paar alte Arbeiterfamilien und Punks geblieben sind, viele Künstler, also Leute, die nie arbeiten gehen wollten, Zeit hatten, sich um den Kram zu kümmern oder aufs Dach zu gehen und Dachziegel zu wechseln. Okay, naja, und von daher seh ich das natürlich sehr kritisch, was hier gemacht wird. Also, ich denke, man kann nicht einfach nur auf Teufel komm raus sagen hey, die Stadt braucht Wohnungen und dann wird halt gebaut ohne überhaupt über irgendwas nachzudenken. Ich mein, dieser Klopper da jetzt im Kastanien­-Boulevard, wo man in ’ne Struktur mit sechsgeschossigen Woh­nungen irgendwie nen Vierzehn­geschosser reinkloppt. Und das dann auch wieder so langweilig macht – ich sag ja immer, Kontrapunkte setzen ist völlig ok – ist nicht nur in der Musik so, sondern auch in der Architektur – aber dann muss man’s auch machen, dann muss man auch mehr Geld in die Hand nehmen und wirklich was hin bauen wo die Leute sagen: Hey, da fahren wir mal hin und gucken uns das an, weil das ist eine abgefahrene Architektur. Bei dem Ding kann man das nicht sagen, das sind einfach nur vierzehn Geschosse blöd­­sinnig übereinander. Deswegen kommt nie­mand hier rausgefahren. Also eigentlich vertane Chancen. Zu sagen: Ne, wenn dann bauen wir aber so, und laden Architekten ein, die auch was Verrücktes mal bauen.«