
Jaqueline Wakarecy

Ich treffe Jacqueline im Gutsgarten Hellersdorf. Sie gehört zur Gutsgarten-Gruppe, die sich jeden Donnerstag und Samstag zum gemeinsamen Gärtnern, Kaffee und Kuchen und zum Sprechen trifft.
Ich kenne sie schon eine Weile, wie auch den Rest der Truppe. Jacqueline ist 54 Jahre alt und lebt seit 1992 in Hellersdorf. Sie ist in Berlin-Pankow geboren, zog dann in die unmittelbare Nähe des Alexanderplatzes in die heutige Otto-Braun-Straße. In der DDR hieß diese noch Hans-Beimler-Straße. Als sie ihren Ex-Mann kennenlernte und mit ihm eine Tochter bekam, gingen sie nach Hellersdorf. Sie zogen dann nochmal im Bezirk um, in die Cottbusser Straße.
Ob es ihr hier gefalle? Jacqueline nickt. »Ja, erstens weil hier viel Grün ist. Hier ist es nicht so laut wie woanders – am Alex zum Beispiel, meine Mutter wohnt immer noch [dort…]. Damals wo wir in Mitte gewohnt haben, da wollt’ ich eigentlich nie weg, da hab’ ich immer gedacht: um Gottes Willen, Hellersdorf, da ist doch gar keine Einkaufsmöglichkeit. War auch wirklich nicht, da gab’s vorne am U-Bahnhof Cottbusser Platz eine Kaufhalle, so nannte sich das früher – ’n Schuhladen oder ’n Schreibwarenladen gab’s hier alles nicht. Das ist dann alles nach und nach erst gekommen.« Ich frage, wo sie dann speziellere Besorgungen gemacht hätte. »Naja, ich hab’ sowieso am Alex gearbeitet [im Haus der Statistik] und dann hab’ ich dann da alles besorgt. Lebensmittel haben wir dann hier immer gekauft. Damals gab’s das Kaufland Eiche schon […]. Den Rest hab’ ich am Alex erledigt.« Jacqueline hat damals kurz nach der Wende bei der Treuhandanstalt angefangen zu arbeiten, am Alexanderplatz im Haus der Elektrotechnik. Ich versuche, das Gebäude einzuordnen.
Ich frage sie, ob sie in Hellersdorf auch in Cafés oder ähnlichem unterwegs sei. »Naja, ’n bisschen dann mal, wenn mein großer Bruder mal kommt, dass wa dann irgendwo einkehren, oder mit Bekannten… oder mit meiner Freundin, die wohnt nun in Marzahn, treffen wa uns dann auch mal im Café in Helle Mitte.« Ich frage sie nach dem Gutsgarten, in dem ich sie ja als Teil der Gruppe kennengelernt habe. 2017 oder 2018 ist sie hierher gekommen, ganz genau weiß Jacqueline es nicht mehr. Was ihr hier gefalle? »Alles. Einmal die Leute. Ja, mit der Arbeit, das macht mir eigentlich auch Spaß, obwohl ich nicht immer kann mit meinem Rücken. Da treff ich bei manchen auf nicht viel Verständnis. Aber es geht mir auch darum, dass ich hier eben Kontakte habe. Wo du ja auch schon gesagt hast: ist doch egal, und wenn du ’n Jahr nichts machst, Hauptsache du bist da. Ich versuch ja immer zu machen, was ich kann.« Bis 2004 hat Jacqueline im schon erwähnten Haus der Statistik gearbeitet, danach noch im Handel. Sie ist gelernte Verkäuferin. Dann hatte sie eine Umschulung zur Altenpflegehelferin gemacht und war in Neukölln in einem Pflegeheim beschäftigt. Ob ihr Hellersdorf von allen Bezirken am besten gefalle, frage ich sie. »So langsam geht’s jetzt. Wir haben damals wo ich Kind war, in Pankow gewohnt, das war da auch schön grün alles, auch Fünfgeschosser wie hier. Aber da hab’ ich nur als Kind gewohnt, da hat’s mir eigentlich auch gefallen. Aber jetzt so im Vergleich, hier fühl ich mich heute genauso wohl.« Wegen einer Trennung der Mutter zogen sie damals aus Pankow aus dem Einfamilienhaus weg nach Mitte.
Ich spreche sie auf die DDR und die Wendezeit an. »Erst wollte man das gar nicht so glauben, dass wirklich die Grenzen offen sind. Das war ja über Nacht gewesen, sozusagen. Aber ja, dann fand man das erstmal schön. Dann ist man auch mal nach West-Berlin rüber.« Ob die DDR schwierig für sie gewesen sei? »Naja. So in der Unterstufe, so Kindergarten und anfangs die Jahre in der Schule – ja, da ist mir nichts besonderes aufgefallen. Das wurde dann erst ’n bisschen komisch, nachdem meine Mutter nochmal geheiratet hat. Und da hab’ ich erstmal gemerkt, dass da doch nicht alles so in Ordnung ist in der DDR.« Ich bitte Jacqueline, das zu konkretisieren. »Das lag an meinem Stiefvater. Vorher, zu Hause, da konnten wir auch sagen, was wir dachten und auch gucken, was wir wollten im Fernsehen. Dann urplötzlich…naja, der hat eben Stunk gemacht.« Ob ihr Stiefvater bei der Stasi gewesen sei? »Ich weiß es bis heute nicht. Ich nehme das an, sag ich ganz vorsichtig. Ich hab’ mal mit meiner Mutter drüber gesprochen, die sagte dann, nee, das glaube ich nicht, der war eigentlich immer gegen die Stasi (lacht leise).« Gleich nach der Wende hat sie sich ihre Akten angesehen. »Ja, da hatte ich Akteneinsicht beantragt. Da stand aber auch nichts drin […].« Ob sie je überlegt hätte, aus der DDR wegzugehen, frage ich. »Ne, eigentlich nicht.« Wohl gab es Überlegungen seitens ihres Mannes. Das erzählte er ihr erst »hinterher«. Aber nun war gerade ihre Tochter geboren und er ließ es bleiben. Jacqueline war damals etwa 23 Jahre alt.
Ob sich beruflich oder finanziell etwas nach der Wende geändert hätte? »Nein, damals noch nicht so. Ich hatte zu DDR-Zeiten einen Vollzeitjob und dann nach der Wende auch gleich wieder, eben da bei der Treuhandanstalt. Das kam alles erst später, dass man finanzielle Einbußen hatte. Die Zusatzrente, das wurde nicht so anerkannt.« Wir stellen fest, dass wir etwas vom Thema »Hellersdorf« abgedriftet sind, finden es aber beide wichtig, auch darüber zu sprechen.
»Ja, eigentlich hat man sein halbes Leben da verbracht. Ja, mein halbes Leben, stimmt…«, überlegt Jacqueline. Sehr vorsichtig erzählt sie mir, dass sie in der Partei war. Obwohl sie nicht richtig sagen kann, warum. Vielleicht auf Druck ihres damaligen Chefs. »Ich war auch ein kleiner Mitläufer, das geb’ ich heute zu.« Sie wirkt nachdenklich. »Es gibt manchmal Momente im Leben – ich weiß nicht, ob du den kennst, den Neonazi-Aussteiger Ingo Hasselbach – sagt dir das was? […] Der war eigentlich auch aus einem guten Elternhaus. Eltern in der Partei und beide beim Neues Deutschland Redakteure und der war dann schon in der Schulzeit so ein kleiner Neonazi. Ja, und dann ist er irgendwann, als sein erster Kumpel umgebracht wurde, dann ist er da raus aus der Szene. Den kennt man eben heute noch so.« Ob sie beeindruckt davon sei? »Ja. Dass der das eben geschafft hat. Hab’ auch die zwei Bücher von dem gelesen. Wenn man aus der Szene aussteigt, hat man ganz dolle Probleme. Sodass du da nicht irgendwo gekillt wirst. Aber er hat’s eben geschafft.« Ob sie glaubt, dass man in der DDR als »AussteigerIn« nicht auch ziemliche Schwierigkeiten bekommen hätte, stelle ich in den Raum. »Ja. Das hab’ ich erlebt. Ich hatte einen Kollegen, der war dann erst in der Partei. Da wurde man ja erst Kandidat. Und dann hat der zum Chef gesagt: Ne, ich will nicht mehr, ich bin der Aufgabe hier nicht gewachsen – das hat den dann wahrscheinlich auch genervt, immer noch mit Parteiversammlungen abends – ja, dann ist der da wieder raus, der hatte ganz schöne Probleme. Der musste dann auch die Firma wechseln. So wär’ es mir dann bestimmt auch gegangen.« Wir sprechen über Fluchtversuche. »[Ich kannte eine], die hat dann so gesagt: Wenn jemand abhauen wollte, warum die nicht ’n Ausreiseantrag gestellt haben – sondern dass die eben [einen] Fluchtversuch gemacht haben, oder dann vielleicht auch noch erschossen wurden… und dann hab’ ich bloß gesagt, naja bloß die, die jetzt ’n Ausreiseantrag gestellt haben, die hatten doch genauso Probleme mit dem Staat DDR gekriegt.« Aber damals sei ihr all das nicht so bewusst gewesen.
Ihre Tochter ist 1985 geboren, zur Wende war sie 4 Jahre alt. Irgendwann, als sie schon erwachsen war, fragt Jacqueline sie, ob sie sich noch an die DDR erinnere. »Ne, sie weiß da nichts. Und dann hab’ ich gesagt: Auch nicht, dass wir da mal nach Pfirsichen zwei Stunden angestanden haben und so was? – Nein, das weiß ich nicht. – Naja, ist ja auch schön, wenn sie das nicht mehr so weiß, eigentlich. Aber – dann hat sie erzählt, sie war da mit Kumpels auch mal in dem Film Sonnenallee, › ach, der war ja lustig und wir haben alle gelacht ‹ , und dann hab’ ich gesagt, ja, bloß wenn du vom Osten gar nichts so weißt…«
Weiter reden wir über das Grau als dominierende Farbe der DDR, über Dresden und Leipzig, das aber natürlich auch in Hellersdorf nicht fehlte. »Kurz nach der Wende sah’s hier auch dolle aus (denkt nach) … und ich weiß das auch, wir in Berlin … wir sind immer hier so … ja was eigentlich … Tomaten, ’ne grüne Gurke, wo die Zeit dann losging – in Berlin haben wir das schon gekriegt. Aber da in der Zone irgendwo. Und ja, wenn wir nach Dresden gefahren sind, zur Verwandtschaft von meiner Mutter, da hat meine Mutter dann auch vorher immer gefragt: ›Na, soll ich Tomaten und Gurken mitbringen?‹ – das kann man sich nicht vorstellen, dass das da Mangelware war.« Überhaupt musste man für Obst und Gemüse anstehen. Am Alex als Zentrum sei man dann schon mal »an ’ne richtige, gute Jeanshose rangekommen.« Und Cordlatzhosen für Kinder aus China. Aber auch mit stundenlangem Anstehen. Und wenn das in Berlin schon so war, dann »wird’s ja in der Zone, in der Republik überhaupt nichts gegeben haben. Denk ich jetzt mal so, weiß ich nicht.« Und heute sei alles so verfügbar. »Das weiß ich heute noch. Da war ich dann schon jugendlich, da ist meine Mutter mit mir zur Brüderstraße gefahren, da war ein großes Jugendmodekaufhaus. Ja, und ich wollte dann eben auch mal ’ne Cordhose haben oder ’ne Jeanshose. Da wollte sie mir dann so’n Ding zu Weihnachten schenken und dann hieß es: ham wa nich, ham wa nich! Irgendwann hat meine Mutter dann was gekriegt. Oder: Ich hab’ ja dann auch Verkäuferin gelernt, Heimwerkerbedarf. Das war zu DDR-Zeiten so: da kamen Kundinnen rein, die sagten: Ich möchte gern ’ne Bohrmaschine für meinen Mann (kichert) und dann hab’ ich dann gesagt: Ja, kriegste, ich möchte dafür ’ne Jeanshose haben (lacht) Gerade untereinander so, wo man Kontakte geknüpft hat und das war dann eben so: Da hat sie dann für ihren Mann die Bohrmaschine gekriegt mit Schlagbauvorsatz und ich meine Jeanshose.« Auch ihre Oma, die im Buchladen arbeitete, hätte lukrative Tauschgeschäfte gemacht, ebenso die Eltern.
In Jaquelines Lebenslauf steht Fachverkäuferin für Heimwerker- und Siedlerbedarf und alle hätten sich stets wegen letzterem gewundert. Sie lacht. Auch ich kenne den Begriff nicht. »Naja, das war eben zu DDR Zeiten so… da gab’s Kleingartenanlagen… ja, was ist das eigentlich? Das ist dann heute so dieses … ja, eben ’ne Harke, oder dann gab’s so’ne Geräte, die du an den Besenstiel ranmachen konntest, wo der Samen reinkam – so ein Sähgerät…« Also eigentlich Gartenarbeitsgeräte, vermute ich. »Ja, stimmt!« Wir müssen beide lachen.
Unser Gespräch ist schön abgedriftet. Ich frage Jacqueline, ob sie abschließend noch etwas sagen möchte. »Vielleicht, dass meine Gesundheit besser wird. Ich fahr jetzt auch zur Reha.« Ihre Haut und ihre Lendenwirbelsäule machen ihr sehr zu schaffen. Den »letzten Rest« hätte ihr die Tätigkeit als Altenpflegerin gegeben, körperlich sehr schwere Arbeit. Die Hautprobleme kämen wahrscheinlich von »Stress oder Ärger, Kummer und Depressionen«, vermutet Jacqueline. Vielleicht könne sie ja bei der Reha mit jemandem darüber sprechen, die erste sei schon »super top« gewesen. Interessante Vorträge, Strand- und Wassersport, Kino. Nach Thüringen fährt sie diesmal dafür, auf die Landschaft und die Kontakte freut sie sich sehr. »Das ist wie Urlaub. Man ist mal raus.«