Gisela Becker

Eigentlich führte ich mein allererstes Gespräch zu diesem Projekt vor zwei Jahren mit Gisela – und löschte die Aufnahme versehentlich. Traurig gestand ich ihr meinen Fehler und sie meinte, dass wir es doch einfach nochmal machen könnten. Nun setzen wir uns mit Kaffee auf eine Bank unter Bäumen im Gutsgarten Hellers­dorf. Gisela ist 66 Jahre alt, man sieht es ihr nicht an. Seit sechs oder sieben Jahren lebt sie in Hellersdorf. Wie sie hierhergekommen sei, frage ich.
»Naja – eigentlich keine schöne Geschichte, der Peter, mein Mann – wir haben uns in der Floristik kennengelernt – und Peter hatte in Kreuzberg einen Laden. […] Wir haben zusammen in Köpenick gewohnt, […] dann sind wir nach Neuenhagen, […] haben sieben Jahre in einem schönen Haus gewohnt, ist aber nicht gut gegangen und darauf hin und auch aus finanziellen Gründen haben wir dann hier in Hellersdorf eine Wohnung gesucht. Wir hatten noch so ein Glück, das war noch bevor es so schlimm war jetzt – also wir konnten uns noch ’ne Wohnung aus­suchen, es waren so viel Wohnungen frei. Da war sogar ein Makler von Stadt und Land, den haben wir beauftragt: So wolln wir das haben! – und das hat so toll ­geklappt.« Die Wohnung ist in der Nähe vom Kaufpark Eiche, »da wo sie auch leider sehr sehr viel bauen, jetzt bauen sie uns leider auch zu.« Aus dem Elf­geschosser kann ­Gisela den Kienberg mit Seilbahn sehen.

Gisela und Peter sind mittlerweile beide in Rente und engagieren sich ehren­amtlich viel im Kiez. Peter hilft im SOS-Familienzentrum in der Fahrrad­werkstatt, Gisela kümmert sich um den Garten und die Kinder. Beim Spazieren­gehen entdeckten sie den Gutsgarten, das war im Spätsommer 2017. »Ich bin hier so voller Enthusiasmus rein.« Gisela ist gelernte Gärtnerin und Floristin und übernahm sofort viele Aufgaben im Garten. »Das war so interessant. Ich bin total über mich hinausgewachsen, ich bin aktiv geworden, mein Gehirn fing an, mal wieder so richtig zu arbeiten.« Gisela kommt völlig ins Schwärmen über diese Zeit. »Da hab’ ich manchmal gedacht: So aktiv war ich nicht mal in jungen Jahren.« Sie ist traurig, dass sie die jetzige Fläche verlassen müssen, auch würde die Arbeit im noch bestehenden Garten dadurch ausgebremst. Aber irgend­wie wurde dann doch noch ein richtig schöner letzter Sommer daraus, es seien sogar noch einige Leute dazu gekommen. »Mit der Zeit merkte ich, dass ich gerne meine eigenen Pflanzen, Beete, meine eigene Ernte haben würde und fing dann ein bisschen an, nach einem Kleingarten [zu gucken]. Nun ging ich natürlich gucken in der ­Corona-Zeit – naja, aussichtslos. Bis zu neun Jahren Wartezeit (lacht) Innerhalb einer Woche haben die 70 Bewerbungen gehabt. […] Die müssen auch unbedingt noch Gärten hier bauen.« Sie hätte gern einen Kleingarten in Hellers­dorf gehabt.

Gisela ist in Woltersdorf geboren. »Ich bin ein Randberliner.« Dann ist sie nach Köpenick gekommen, durch ihre Lehre als Gärtnerin nach Pankow. »In Pankow hab’ ich über 20 Jahre gewohnt. Ich hab’ zwei Mädchen, die jetzt auch schon über 40 sind. Die eine ist in der Schweiz, die andere in Augsburg, also sind weit weg, die beiden, aber gehen so schön ihren Weg.« Ihre Kinder hat sie alleine großgezogen, sie hat sie nicht mit Peter bekommen. »Mit Peter bin ich auch schon wieder 25 Jahre zusammen. Eigentlich hatten wir schon Silberhochzeit, aber wir sind erst das vierte Jahr verheiratet. 2016 haben wir geheiratet, eigentlich aus einer dummen Situation heraus. Peter war immer stolz, dass er nie verheiratet war. Ich hatte zweimal einen Antrag gestellt, angefragt und dachte: Mensch, ich brauchte das nie machen, nu’ sag ich, mach ich nicht mehr, man hat ja auch ein bisschen Frauenstolz (lacht). Dann hat er immer so rumgeeiert, dann dachte ich, ok, geht auch so –  dann hat er ja seine Leukämie gekriegt. Es war ganz verrückt: Ich stand im Krankenhaus, den Peter besucht – ja, ich hab’ keine Information gekriegt und als es dann ernst wurde, durfte ich ihn nicht besuchen und dann haben die auch gesagt: Warum heiraten sie denn nicht? Und das ist wirklich eigentlich traurig, schön und traurig. Wir haben zwischen Chemos geheiratet. […] Aber wir haben uns das schön gemacht, ich hab’ das alles schön organisiert mit den besten Freunden, mit den Liebsten.« Peter ist wieder gesund, vor zwei Monaten hätte er »das OK gekriegt, dass wir es geschafft haben. […] Er ist ein ruhiger Pol, das ist das, was ich brauche, […] einen, der mich mal so’n bisschen bremst (lacht).«

Es gefalle ihnen mittlerweile gut in Hellers­dorf, schade sei nur, dass so viel gebaut wird. »Aber wir haben so eine preisgünstige Wohnung, und wir kriegen Wohngeld. Wir sind bei Stadt und Land, in meinen Augen ist es mit eine der besten Wohngesellschaften. Ich bin so zufrieden mit denen. So ungünstig, wie sich’s zur Zeit dort entwickelt – wir bleiben.« Sie erzählt mir, wie viele Leute auch aus Berlin nach Hellersdorf ziehen würden, ein ganz gemischtes Publikum. »Und die Umgebung«, schwärmt Gisela, »ein Grün! Der Wuhle-Wanderweg, egal in welche Himmels­richtung du gehst, haben wir Grün.« Dennoch gebe es »Ärzte in der Nähe, Einkaufsmöglichkeiten und es ist alles zu Fuß erreichbar und wir sind wirklich in 20 Minuten – gut, halbe ­Stunde – auf dem Alex. Straßenbahn, ­Busse, S-Bahn, U-Bahn – wir kommen von hier nach Pankow, nach Köpenick, nach Kreuzberg, Charlottenburg – also wir kommen überall hin.«

Ich frage Gisela, ob sie einen Eindruck von Veränderung in Hellersdorf hätte, seit sie hier wohnt. Sie meint, es gäbe viele Leute, die von rechter Gewalt im Bezirk sprechen würden. Sie bekäme davon allerdings nicht viel mit. »Mich erschreckt das dann doch immer wieder, wenn man hört, dass hier an so Hotspots wieder irgendwas war. […] Ich persönlich muss sagen, du lebst hier total ruhig. Obwohl wir […] sieben Geflüchtetenunterkünfte hier haben – alles ruhig, alles ok. Ich muss da jetzt wirklich von mir reden, ich persönlich hab’ überhaupt keine Probleme, Schwierigkeiten.« Ob sie Freunde im Bezirk hätten? »Wir haben ganz liebe Nachbarn, das war auch mir sehr wichtig […]. Mich macht das ein bisschen traurig, aber es ist halt so, dass […] man wirklich in so einem Elf­geschosser total anonym [ist]. Wenn einer stirbt oder was weiß ich was, das kriegst du da nicht mit.« Im Fahrstuhl würde man sich mal kennenlernen, lacht Gisela, und die Kinder würden immer nett grüßen, das gefalle ihr sehr.

Während DDR-Zeiten hätte Gisela in einem Fünfgeschosser ohne Fahrstuhl gewohnt. »Das ist kein Vergleich. Wir haben Geburtstag zusammen [gefeiert]. Gut, wir waren da alle auch jung! Da gab’s ja Wohngemeinschaften. Ja, wir haben da viel gemeinsam gemacht […] und man hat sich wirklich auch untereinander geholfen.« Inzwischen würde so sehr »jeder seins« machen, selbst innerhalb von Familien. Aber mit diesen einen Nachbarn wäre es so toll: man läd sich gegenseitig ein, macht etwas zusammen, »wie in alten Zeiten«. Die Wendezeit sei für sie selbst »schrecklich« gewesen. »Also ich bin eine derjenigen, die nicht euphorisch waren. Das hat auch Gründe.« Sie sei in einer Gruppe gewesen. »DDR vor der Wende, Wende, nach der Wende… und da musste ich feststellen, alle Frauen, die alleinstehend waren in der Zeit – und ich war alleinstehend, hatte eine Pubertierende, die war so 13 und ’ne 10, 11-Jährige. So, und die Wende kam: Naja, was haste gelernt? – Kapitalismus, Prostitution, Arbeitslosigkeit – ich hab’ ja nur das Negative [mitgenommen], ich bin ja leider auch so ein negativ denkender Mensch. Ja… und ich hatte Angst. Ich hatte Angst um meine Kinder, ich hatte Angst um meinen Job und die Angst war nicht umsonst. Denn ich war Gärtnerin, Zierpflanzengärtnerin im Gewächshaus. Und in Berlin, die Gewächs­häuser – wir waren fast gleich am Anfang die ersten, die abgewickelt worden sind und ich musste dann auch schnell Arbeit suchen. Also ich hab’ nur in Panik gelebt, wirkliche Angstzustände. Dieser Zusammenfall der DDR – ja, für mich war das schlimm.« Und die Angst sei sehr lange geblieben. Ich erinnere aus unserem ersten Gespräch, dass sie bei einer sehr netten Frau Arbeit gefunden hat. »Ja, das war meine Rettung, dass ich eigentlich dann nach West-Berlin gehen musste, weil’s im Ostteil nichts gab. Weil ich hatte so eine Angst, arbeitslos zu sein. Und es wurde ja auch alles [teurer]. Mieten – wir haben uns ja um Mieten keinen Kopf gemacht! So und dann bin ich drüben im Wedding, Kreuzberg, Neukölln, überall in die Blumenläden. Und: Im Wedding, in der Möllerstraße, gegenüber von Schering – das vergess ich nicht (lacht) – genau, da war dann der erste Blumenladen, wo es wirklich besser, schöner wurde und da war eine Ossi-Floristin, die hat mir die Floristik beigebracht. In aller Ruhe. Die hat sich mit mir Zeit genommen […] und da hab’ ich gleich gearbeitet.« Wegen der noch nicht ausgebauten und nicht verbundenen Verkehrsbetriebe war der Weg immer sehr lang von Pankow aus. »Und meine armen Kinder. Also, die mussten total ihr Leben alleine gestalten. Ich bin früh raus, die hab’ ich nur wach gemacht. Die mussten alles alleine machen. Und wenn ich nach Hause gekommen bin, war’s eben auch schon spät. Ja… (Pause) und das ist die Frau [die Floristin], die mich mit Peter verkuppelt hat! Die dann den Peter beim Grillen mal mitbrachte. Und das dann eigentlich noch gedauert hat, weil’s nicht mein Typ war (lacht)«. Gisela denkt nach und kommt nochmal auf ihre Angst zu sprechen. »Und das war eigentlich das Gute, das ich eben rüber fahren musste. Das war interessant […], immer mit dem Bus, oder der Straßenbahn hab’ ich richtig die Grenze [überfahren]. Jetzt biste im Westen – da hab’ ich eine ganz andere Gefühlswelt gehabt – und jetzt wieder im Osten ­(atmet erleichtert aus) – wieder bei uns. Ist komisch…obwohl ich merkte, es ging. Aber dadurch hab’ ich die Mauer schneller abreißen können, auch in mir. Ja, und das war echt gut. […] Und dann gings wirklich aufwärts. Ja und mit Peter, wir haben ja Nächte durchdiskutiert. Klar, hatten wir auch Reibungspunkte: Er Wessi, ich Ossi und ich war ja in der Partei…aber er war eigentlich ganz gut eingestellt…er hat mir sogar ein bisschen die Augen geöffnet.
Ich war doch von dem System sehr verblendet. Ich war wirklich reiner Staatsbürger, ich stand dafür, voll dahinter. Für die gute Sache (etwas ironisch). […] Es waren eben die falschen Menschen, die an der Macht waren. Ich wünsch mir’s jetzt nicht zurück, auch wenn hier nicht alles rosarot ist, das sollte man auch bedenken. Was interessant ist, dass wir DDR-Bürger eigentlich verwöhnt waren alle. Die Partei, die Regierung hat uns so viel abgenommen. Wir konnten meckern, es gab bestimmte Stellen, da haste dich beschwert, dann wurde das versucht, zu erfüllen. Und wenn du irgendwie mit den Kindern Probleme hattest, oder du hattest selber Probleme, da sind immer welche dagewesen, die dir geholfen haben. Das habe ich besonders nach der Wende [gemerkt] und dadurch brachen auch so viele zusammen. Weil: Plötzlich mussten wir uns um alles selber kümmern. […] Ich bin eben auch eine derjenigen, die zu DDR-Zeiten keine Probleme hatte.

Wenn man jetzt natürlich Leute hört, die eben für den Staat nicht waren, also… die Filme, die jetzt manchmal kamen… zuerst haben wir gesagt: Alles gelogen, alles gelogen, stimmt nicht! … und da sagt dann Peter, ja doch, du musst akzeptieren, dass es auch sowas gab! Und da brach auch ich so ein bisschen und dachte, man, wie blind warst du denn. Und jetzt sind so manche Dinge, wo mir manchmal Jugendliche gesagt haben: Gisela, wach auf! Oder damals kurz vor der Wende, da haben die mir gesagt, der Honecker wird nicht mehr gewählt. Sag ich, Quatsch, hört auf mit so einem Unsinn! Naja, ich war auch eben einseitig blind.« Man spürt, wie sie das Thema aufwühlt. Gisela war damals Anfang, Mitte dreißig. Ich verweise nochmal auf die Gruppe, von der sie mir erzählt hat, von den alleinstehenden Müttern, die ähnlich wie sie den Halt in dieser Zeit verloren haben. Giselas Offen- und Reflektiert­heit beeindruckt und berührt mich. »Das ist kurios, als es dann diese hundert Mark gab, dieses Begrüßungsgeld, bin ich natürlich dann auch schnell noch rüber im letzten Moment… aber ich war eben nicht so: rüber gegangen und [mit] Euphorie über die Grenze – ich saß da wie versteinert zu Hause, um das alles erstmal zu begreifen. Und dann natürlich meine Kinder instruiert: geht bitte nicht alleine! Naja – was hab’ ich nach fünfzehn Jahren gehört? – Mami, natürlich waren wir drüben! Aber wir haben dir’s nicht gesagt, du wärst ja gestorben vor Angst!« Sie lacht laut. Es ist schön zu sehen, dass sie heute darüber lachen kann.
Zum Abschluss frage ich Gisela, nach alldem was sie mir erzählt hat, ob es für sie wichtig gewesen sei, in einen ehemaligen Ostbezirk wie Hellersdorf zu ziehen. »Als es hieß, Peter, wo wollen wir wohnen – der hatte noch die Arbeit in Kreuzberg – hat er immer gesagt, du in Kreuzberg: [da] fühlst du dich nicht wohl. Ich hab’ dann in vielen Ecken gesucht und wir sind irgendwie immer wieder hier gelandet. Also ich war total happy.«