
Benjamin
Benjamin, 31, ist einer der BetreuerInnen im Jugendzentrum Anna Landsberger. Es dauert noch kurz, bis wir unser Gespräch beginnen, ich besorge uns zwei Kaffee. Es ist ein regnerischer Tag. Wir sind auf einem Fest im Gutsgarten Hellersdorf. Benjamin bietet mir eine Spende für das wärmende Getränk an. »Ich arbeite ja selbst im Vereinsgrund und weiß, wie sehr solche Sachen auch von Spenden abhängen.« Ich stimme ihm zu.
Zunächst sprechen wir ein wenig über den geplanten Umzug des Gutsgartens, über sich verändernde Strukturen im Bezirk, den immer stärker präsenten Wohnungsbau. »Das ist schade, dass gerade für solche Sachen, was ja was Alternatives, Schönes, Nachhaltiges ist, dann […] Platz geschaffen werden muss für irgendwelche anderen unnützen Sachen. Klar, wir haben Wohnmangel in Berlin, aber ich glaube, das könnte auch anders gelöst werden.« Dabei gäbe es so viel Leerstand in Hellersdorf, meint Benjamin. Er erzählt mir von einer Facebookseite, Wir Hellersdorfer und Marzahner, dort würden auch Kommentare abgegeben werden, die völlig daneben seien, meint Benjamin. Ich frage nach einem Beispiel. »Na, wir [der Jugendclub] haben ja letztens Schöner leben ohne Nazis gemacht. Da hat einer dann geschrieben: ›Noch so’n Harz IV-Fest.‹ – Wo ich mich dann frage: Warum? Genauso wie das Bunte Haus, die sind unter der Trägerschaft vom Roten Baum, haben das Promenadenbuffet – da war genau das gleiche! Warum macht man so ein Fest, an so einem Tag – für wen macht man das? Warum [regen sich] die Leute darüber auf, dass Kultur geschaffen wird? […] Es ist eine schöne Sache und natürlich darf da jeder hinkommen, egal ob Harz IV-Empfänger oder nicht, das ist doch totaler Quatsch.« Im Grunde ginge es bei diesen Hass-Kommentaren mehr um die eigene Unzufriedenheit, überlegt er.
Benjamin lebt seit 2014 in Berlin. Erst in Marzahn, dann ist er mit seiner Freundin nach Hellersdorf gezogen. Ursprünglich kommt er aus Mecklenburg, seine Jugend hat er in Güstrow verbracht. »Vieles falsch gemacht« habe er damals, Drogenkonsum, Drogendealerei, »die falschen Leute.« Er wollte dort weg, »ich habe dieses Leben so nicht mehr leben wollen« – und hat dann eine Ausbildung als Erzieher abgeschlossen. Seine Freundin und er möchten heiraten.
»Für mich war auch mit ein Grund die Perspektivlosigkeit in Güstrow. Also ich hab’ ja die Ausbildung zum Erzieher gemacht und mir war schon von vornherein klar, ich will in der Jugendarbeit arbeiten später und am besten auch in einem Jugendzentrum, was ich ja jetzt hier in Berlin auch machen kann.« Erst hat Benjamin als Betreuer auf Ferienfahrten geholfen, durch seine damalige Jugendbegleiterin in Güstrow, die er nach Möglichkeiten fragte und die ihn einlud, mitzukommen. »Mensch Benni, du kannst doch was, du kannst doch mit Menschen, Kindern arbeiten«, hat sie ihm gesagt. Er schrieb mit ihr gemeinsam Bewerbungen und wurde genommen. Gleich mit dem Plan, nach der Ausbildung aus Güstrow wegzugehen. »Die Leute haben mir nicht geholfen, da raus zu kommen. Ich hab’ das ganz alleine gemacht, nur mit meiner Jugendclubbetreuerin, deswegen hab’ ich mit ihr heute noch einen guten Kontakt. Wir machen auch viele Kooperationsprojekte mit denen, die kommen mal mit ihrer Gruppe hierher, oder wir fahren zu denen. Durch Hilfe zur Selbsthilfe hat sie mir damals schon gezeigt: Ich kann ja was!« Benjamin war damals 22 Jahre alt.
Ich bin beeindruckt, wie wichtig es für junge Erwachsene zu sein scheint, zumindest eine Ansprechperson zu haben, der sie vertrauen, auf die sie zugehen können. Benjamin stimmt mir sehr zu. Er wollte dann weg vom Land, auch wenn dies viele schöne Seiten hätte. Aber kulturell würde die Stadt einfach mehr bieten, außerdem hat Benjamin kein Auto und Führerschein. Öffentliche Verkehrsmittel und eine gute Anbindung seien ihm also sehr wichtig und das Fahrrad fände er aus »Umweltaspekten« sowieso gut.
Dann gab es noch die Entscheidung, welche Stadt. »Geht man nach Hamburg, wo’s dann doch ein bisschen geordneter ist, oder nach Berlin, wo’s chaotisch ist – ich war schon immer ein Chaot, deswegen hat Berlin zu mir gepasst. Ich hab’s bisher nicht bereut, ich bin gerne hier in Berlin.« Wir sprechen darüber, dass die Stadt immer voller wird. »Deswegen hab’ ich mich eigentlich auch bewusst für diesen Bezirk entschieden. Man ist halt nicht direkt in der Stadt, wo es eh viel teurer ist und wo viel los ist – hier, ich sag mal, das erinnert mich an meine Kleinstadt damals.« Das viele Grün, die Gärten der Welt, die Natur um ihn herum und auf die er schaut, wenn er aus dem Fenster guckt. »Ich bin jetzt nicht hierher gekommen, weil ich vorher viel über den Bezirk gehört habe. Ich war wirklich total unvoreingenommen. Ich hab’ auch Kollegen […], die sagen: Oh Gott, Marzahn – viele Nazis (Pause) – Mag sein, aber ist mir persönlich nie […] vorgekommen, genauso wie das mit der Armut im sozialen Raum. Das mag ja sein, dass es viele Leute gibt, die nicht viel Geld haben, und viele Leute hier auch rechts sind – ich glaub, die gibt’s aber überall. Auch in meiner Heimat gibt’s ganz viele davon, sowohl rechte als auch arme Leute. Aber ich finde, dass wir auch sehr viel buntes Klientel haben, also wir haben mittlerweile auch gut situierte Leute hier in Marzahn-Hellersdorf. Ich selber bin ja jetzt auch nicht schlecht situiert, ich kann jetzt nicht sagen, dass es mir schlecht geht, mir geht’s sehr gut. Ich verdiene nicht die Welt, aber dadurch, dass ich mit meiner Freundin alleine ohne Kinder wohne, können wir uns vieles leisten. Zwei Mal im Jahr Urlaub machen, all inclusive.«
Ob er sich in Berlin erstmal umgeguckt hätte in den Bezirken, frage ich. Eigentlich nicht. Er hatte einen Freund, der in Lichtenberg wohnte und sie waren im Tresor feiern – da hat er seine Freundin kennengelernt. »Glaubt man eigentlich gar nicht, dass man da die Liebe des Lebens trifft (lacht)«. Als er noch in der Ausbildung war, haben die beiden eine Fernbeziehung geführt, Benjamin kam aber jedes Wochenende nach Berlin. Seine Freundin studierte an der ASH und wohnte in Marzahn. Und für beide war klar, in Marzahn-Hellersdorf zu bleiben, als sie dann gemeinsam nach Wohnungen guckten. Beide sind Taekwondo-Sportler:innen und auch der Verein ist im Bezirk. Wie eine Familie, meint Benjamin.
Wir kommen auf seine Arbeit zu sprechen. »Ich glaub, ich hab’ 10 Bewerbungen geschrieben und gleich die erste wurde beantwortet vom Roten Baum und ich war total happy darüber und […] wurde auch genommen. […] Der Jugendclub ist sehr weltoffen, der Träger ist sehr weltoffen – wir leben ja eine weltoffene, tolerante Gemeinschaft und das leben wir auch mit unseren Jugendlichen, die unsere Einrichtung besuchen. Und im Bunten Haus, die von klein bis alt versuchen, das umzusetzen. Und unser Chef, der macht so viele internationale Jugendprojekte, wo wir selber mit beteiligt sind, wo man sieht, wie wichtig ein gemeinschaftliches Leben innerhalb verschiedener Kulturen […] ist und wie schön das sein kann. Wenn da einfach verschiedenste Kulturen und Welten aufeinander treffen und doch eigentlich jeder – wir sind doch alles eins – wir sind Menschen. […] Ich bin glücklich, da gelandet zu sein!«
Benjamin ist seit fünf Jahren in der Einrichtung. Der Schwerpunkt dort liege in der »offenen Jugendarbeit.« Im Club gibt es unten einen großen, für alle offenen Bereich, »da kommen die Jugendlichen rein nach der Schule, oder auch nach der Ausbildung, vielleicht auch einfach nur so, weil sie grade gar nichts machen. Und da treffen sie sich, da sind sie mit ihren Freunden, sind unter sich, können Musik hören, Tischtennis, Billard, Kicker spielen und […] wir sind im Prinzip Ansprechpartner. Wir sind für die Jugendlichen da und reden mit denen. Und genau über diese Instrumente, also Tischkicker oder Billard spielen – das hört sich immer so […] an: › Schöner Job, den ihr da habt! ‹ – aber das sind einfach nur Instrumente, um mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und Vertrauen aufzubauen. Und das ist ganz doll wichtig […], weil dann geht eigentlich erst unsere Arbeit los. Dann kommen nämlich die meisten mit den Problemen, die sie haben. Und die meisten haben wirklich einen großen Rucksack voller Probleme – und das funktioniert nur über Beziehungsarbeit […]. Wir versuchen, Soziale Arbeit zu leisten, für die wir nicht bezahlt werden. Wir […] schreiben mit ihnen zusammen Bewerbungen, gehen zu Jugendamts-, zu Arbeitsamtsterminen, […] sprechen mit den Eltern. Ohne uns würden sie es teilweise gar nicht machen. Aber durch uns, das Vertrauen, das sie haben, machen sie’s und das ist dann der erste Schritt. Das ist nur ein Augenmerk unserer Arbeit. Ansonsten haben wir viel internationale Jugendarbeit. Junge Leute, die Interesse an Musik oder solchen Umweltprojekten haben oder was auch immer – grade ist wieder dieses Urbane: Skaten, Hip-Hop, Graffiti im Kommen – da haben wir halt viele Projekte. Wenn die Jugendlichen da Interesse haben, dann können sie für einen schmalen Taler oder sogar umsonst für fünf bis zehn Tage einfach mal im Ausland coole Sachen [machen]. Oder auch in Berlin. Dann haben wir jetzt ja noch das diveRcity-Projekt, das ist so eine Open-Air-Reihe, wo Jugendliche zu uns kommen können, sagen: › Ich hab’ne Idee, ich möchte irgendwas machen, ich möchte ein Open-Air gestalten – könnt ihr mir helfen.‹ Wir stellen die Ressourcen, schreiben die Anträge mit den Jugendlichen, damit’s auch ein legales Fest wird. Und das funktioniert hier in Marzahn-Hellersdorf über die letzten Jahre ganz gut. […] Jugendkultur ist wichtig, die müssen auch eine Möglichkeit haben, ihre Kultur zu leben. Es kann ja nicht sein, dass immer nur alte Klassikmusik irgendwo läuft – die Jugendlichen, […] die wollen auch ihre Kultur leben. Das ist genauso wichtig, wie alte Menschen ihre Klassik hören dürfen.«
Ich hake nochmal bei den Problemen der Jugendlichen nach. Es ginge schon viel um Armut und eine dadurch empfundene Ungerechtigkeit, meint Benjamin. Dies sei allerdings nicht spezifisch für den Bezirk, sondern gäbe es überall. Und oft fehle der Respekt vor den Eltern, Lehrern, der Schule. Aber auch innerhalb der Familien würde viel schieflaufen. Um Ausgrenzung würde es gar nicht so viel gehen, auch wenn es anfangs Vorurteile gegeben hätte, die aber durch Kontakt und Begegnungen abgelegt werden könnten; der Jugendclub sei mittlerweile sehr divers. Es gäbe immer wieder Wechsel unter den Jugendlichen, viele kommen und gehen, doch gebe es auch ein »Stammklientel«. Ferienfahrten werden partizipativ veranstaltet, wie etwa nach Lüssow, an der jede und jeder durch Fördermittel teilnehmen kann. »Da haben wir dran angeknüpft und Lüssow ist schon immer cool, aber vielleicht können wir ja auch mal ins Ausland. Kostet dann natürlich viel Geld, also: Wie kriegen wir das hin, dass wir weniger Geld bezahlen? Dann haben wir mit den Jugendlichen zusammen gesessen und Vorschläge gesammelt: Wir könnten ja grillen, wir könnten auf irgendwelchen Festen Kuchen verkaufen […]. Alles, was sie da an Geld einnehmen, das kommt in diese Ferienkasse, wir nennen sie die Schweinekasse (lacht)«. Nach Tschechien zum Winterurlaub ging es schon, nächstes Jahr soll es ein Sommerurlaub werden. Die Jugendlichen entscheiden selber, wo es hingeht und was gemacht wird. Benjamin kümmert sich viel um die Stabilität des »Gruppengefüges« – denn natürlich gebe es auch Konflikte. Die Jugendlichen »kennen unseren Regelkanon und der ist wirklich nicht groß, […] es ist sehr frei, aber Gewalt ist halt eine Sache, die geht gar nicht.« Sowohl psychische als auch körperliche, das finge bei Beleidigungen an, meint Benjamin. »Es gibt immer, wenn irgendein Vorfall ist, ein klärendes Gespräch. Dafür habe ich mich […] immer interessiert: Gewaltfreie Kommunikation und Konfliktmanagement.« Aber die Konflikte würden mit der Zeit immer weniger werden.
Wir kommen auf Drogenkonsum zu sprechen, der wohl unter den Jugendlichen nicht unüblich sei. Ein großes Problem sei, dass viele Drogen mittlerweile sehr günstig zu bekommen sind und Medikamente wie Beruhigungsmittel gemischt mit Alkohol oder Marihuana als Rauschmittel fungieren, erzählt mir Benjamin. »Generell habe ich persönlich auch kein Problem damit, wenn junge Leute sich ausprobieren und bewusst damit auseinandersetzen. Dennoch sind Drogen bei uns im Haus strikt untersagt und wir klären die Jugendlichen immer über mögliche Folgen und Konsequenzen vom Konsum und Missbrauch auf. Das ist uns als Einrichtung, aber auch mir persönlich sehr wichtig.« Es würde nichts bringen »jemanden etwas generell zu verbieten, sondern [vielmehr], dass man über alles spricht und Aufklärung betreibt. So bekommt man einen besseren Zugang zu den Personen und sie gehen dann auch bewusster mit bestimmten Thematiken um, da sie sich damit auseinandersetzen.«
Ich lenke das Gespräch nochmal auf Benjamins Leben hier in Hellersdorf und frage, ob er viele Freunde hier im Bezirk hätte. »Ich hab’ viele Freunde durch den Verein, die leben dann halt in Marzahn-Hellersdorf […]. Die meisten Freunde [hab’ ich auf Arbeit], weil meine Kollegen sind mittlerweile für mich Freunde. Da hat man […] allein durch die Arbeit ähnliche Interessen. Die leben in Berlin verstreut.« Wo Benjamin daher Freunde treffe, sei unterschiedlich: in Lichtenberg oder Hellersdorf, mit seiner Freundin ginge er aber auch viel »in die Stadt«. Denn Ausgehen und Tanzen würde Hellersdorf-Marzahn noch nicht viel bieten. »Nur die Open-Airs von unseren Jugendlichen«, lacht Benjamin. Er würde dort auch in seiner Freizeit hingehen, es gäbe wirkliche Talente, Frauen wie Männer und die Musik sei teilweise richtig gut. Hunderte von Leuten würden die Veranstaltungen mittlerweile besuchen. Benjamin freut sich sichtlich für ›seine‹ Jugendlichen. Als ich ihn und den Rest der Truppe in den Gutsgarten einlade, meint er, sie hätten eh schon darüber nachgedacht. Auch stünde vor dem Club ein Container, den sie bepflanzen wollen, deshalb ist Benjamin sehr interessiert an den Hochbeeten, die im Gutsgarten stehen.
Nebenbei sind Benjamin und seine Freundin noch im Quartiersrat aktiv. »Weil wir halt einfach sagen: Es geht uns gut und wir wollen uns für den Bezirk einsetzen, dass [der] ein besseres Image kriegt.« Denn es gäbe immer noch sehr viele Vorurteile, was auch die Jugendlichen spüren würden. »Deswegen versuche ich, mich mit für den Bezirk einzusetzen mit meiner Freundin. Da ist ja auch das Bunte Haus, also mein Arbeitgeber, ganz viel mit drin. Ist ’ne schöne Sache, auf jeden Fall.« Es könnte allerdings noch mehr an junge Leute herangetreten werden, mehr spannende Sachen veranstaltet werden, findet Benjamin. »Weil nur so funktioniert’s: Wenn alt und jung […] miteinander koorperieren, kommunizieren und arbeiten.«
Wir bekommen noch mal Kaffee nachgeschenkt, trotz des grauen Wetters haben wir ein langes Gespräch geführt und plaudern nun noch ein wenig. Spontan sagt Benjamin: »[Ich] bin einfach glücklich. Ich bin glücklich, nicht ganz so viel Geld zu verdienen, aber immerhin noch genug, dass es zum Leben reicht und nicht nur zum Überleben […]. Ich kann Kultur genießen, ich kann mit meiner Freundin ganz viel schöne Sachen machen. Ich hab’ einfach einen schönen Job, […] ich kann jeden Tag guten Gewissens dahin gehen – ich geh gerne zur Arbeit. Ich mach das, was ich gerne mache!«